„Diejenigen, die denken, sie hätten keine Zeit für körperliche Bewegung, werden sich früher oder später Zeit für ihre Krankheiten nehmen müssen.“
Edward Stanley, 1826-93,15. Earl of Derby
Dieses alte, aber wunderschöne Zitat über die Bedeutung von körperlicher Bewegung habe ich erst vor einem Jahr gefunden. Die körperliche Bewegung lässt sich aber auch durch sinnvolle diagnostische und therapeutische Verfahren ersetzen, z.B. gesunde Ernährung oder Entspannungsverfahren.
Haben Sie sich schon einmal einer Koloskopie unterzogen?
Wenn nicht, warum nicht? Vielleicht besteht bei Ihnen gar keine Indikation dafür, ganz einfach, weil Sie noch zu jung sind. Wenn Sie aber das Alter dafür erreicht haben, sollten Sie sich schon fragen, warum Sie diese diagnostische Leistung bisher noch nicht in Anspruch genommen haben.
Ich will niemanden nötigen, dies zu tun und schon gar nicht vorwurfsvoll wirken. Wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen bewerfen, denn bei mir war sie längst überfällig gewesen. Und es gibt doch so viele schöne Erklärungen respektive Ausreden, warum es bisher einfach noch nicht dazu gekommen ist:
– „Ich habe doch so viel Wichtiges zu tun und einfach noch keine Zeit dafür gehabt.“
– „Das läuft mir doch nicht weg. Das kann ich doch immer noch machen.“
– „Das ist doch gar nicht notwendig. Die Ärzte wollen nur Untersuchungen abrechnen.“
– „Die Untersuchung ist vielleicht gar nicht so ungefährlich. Es kann ja auch mal durch die Untersuchung zu einer Verletzung kommen.“
– „Die Vorbereitung dafür und die Untersuchung selbst sind doch bestimmt sehr unangenehm.“
– „Wenn ich merke, dass irgendwas nicht stimmt, kann ich mich immer noch untersuchen lassen.“
– „Ich lebe doch so gesund. Ich habe bestimmt nichts.“
Das Argument der fehlenden Zeit kann man nun gar nicht gelten lassen. Wie viel Zeit vertrödeln wir nun wirklich mit unnützen Dingen? Es ist kein Problem der Zeit, sondern der Priorität. Was mir wichtig ist, das mache ich auch. Und ich nehme mir die Zeit dafür. Das oben angegebene Zitat kann man durchaus auch variieren, indem man Bewegung durch Meditation, gesunde Ernährung oder eben auch sinnvolle Diagnostik ersetzt.
Abb. 1: Bilder wie von einem anderen Planeten – aber so sieht ein gesunder Darm aus
Natürlich kann man alles immer noch machen – außer wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wenn ich vom Nutzen einer Diagnostik oder einer Therapie nicht überzeugt bin, dann sollte ich mich ihr auch nicht unterziehen – im Zweifel sollte ich mir aber die Informationen holen, die meinen Entscheidungsprozess fördern. Wenn ich „eigentlich“ von etwas überzeugt bin, dann sollte ich mich fragen, was mich davon abhält – oder endlich mal Nägel mit Köpfen machen.
Manche Untersuchungen sind vielleicht wirklich unnötig. So werden meiner Meinung nach viel zu viel bildgebende Verfahren durchgeführt – vom Ultraschall über das Röntgen bis zum CT -, ohne dass eine zielführende Frage vorliegt oder aus den Untersuchungen gar keine Konsequenzen gezogen werden. Alle diese Untersuchungen sind gut und wichtig – aber sie sollten gezielt und nicht „eben mal so“ gemacht werden, damit man nachgeschaut hat oder sich rechtlich abgesichert hat.
Jede diagnostische Maßnahme beinhaltet ein gewisses Risiko. Bei einer simplen Blutabnahme kann ich mir (mit sehr, sehr geringer Wahrscheinlichkeit, aber theoretisch schon möglich) eine Infektion zuziehen. Entscheidend ist immer die Nutzen-Risiko-Konstellation. Bei einem erfahrenen Untersucher ist das Risiko für eine ernsthafte Komplikation sehr niedrig: Bei 1-2 Patienten von 1000 kommt es zu einer Komplikation, die einen stationären Aufenthalt erfordert. Die häufigsten Komplikationen stellen Reaktionen auf die medikamentöse Sedierung, Blutungen oder Darmperforationen dar. Diesem zweifellos vorhandenen Risiko steht ein diagnostischer Nutzen gegenüber. Nach dem 12. Jahresbericht des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung, werden bei 1000 Patienten folgende Befunde erhoben:
In etwa jeder zweiten Koloskopie, die ja nicht aus einer medizinischen Indikation bei bestehender Symptomatik, sondern allein als Screening unter präventivmedizinischen Aspekten erfolgte, wird also „irgendetwas“ gefunden. Wie viele Leben dadurch gerettet werden, weil Darmkrebs in einem noch heilbaren Stadium gefunden wurde, und wie viele Darmkrebse verhindert werden, weil die Vorstufen bereits entfernt werden können, vermag niemand zu sagen. Eine Studie, die diese Fragen zweifelsfrei beantwortet, müsste eine große Anzahl von Menschen zufallsmäßig auf zwei Gruppen aufteilen, von denen die eine am Screening-Programm teilnimmt, die andere aber nicht. Nach einigen Jahren schaut man, in welcher Gruppe wie viele Menschen noch leben oder an Darmkrebs oder anderen Erkrankungen leiden. Eine solche Studie wird heute aber von keiner Ethikkommission genehmigt werden, weil der Nutzen der Koloskopie einfach evident ist. Mit Evidenz ist hier aber nicht der Beweis gemeint, wie wir es aus der evidenzbasierten Medizin kennen, sondern die deutsche Bedeutung der Offensichtlichkeit. Bei diesen Zahlen kann einfach niemand einen Nutzen in Frage stellen!
Ja, die Vorbereitung ist nicht das angenehmste, was man sich als Freizeitbeschäftigung an einem Wochenende vorstellen kann. Hierzu und zur Untersuchung selbst schreibe ich noch weiter unten.
Das „Argument“, man könne doch noch etwas tun, wenn man etwas merkt, hat die Überzeugungsfähigkeit des Mannes, der aus dem 20. Stock eines Hochhauses gestürzt ist und auf der Höhe des 1. Stockes meint, dass bisher doch alles gut gegangen sei. Spaß beiseite: Woran kann man denn einen Darmkrebs bemerken? Schmerzen, Stuhlverhalt oder Blutungen sind alles Spätsymptome, wenn der Tumor also schon weit fortgeschritten ist. Außer man hat das „Glück“ und der Tumor sitzt nahe an einem Gefäß und führt schon zu Blutungen, wenn der Krebs noch gut therapierbar ist, was aber sehr selten geschieht. In den meisten Fällen ist es bei Auftreten von Symptomen schon sehr spät, oft sogar zu spät. Der Test auf verstecktes Blut im Stuhl gibt nur Hinweise. Sensibilität (alle Tumoren werden entdeckt) und Spezifität (wenn der Test negativ ist, liegt auch kein Tumor vor) sind bei diesem Test leider viel zu niedrig und ersetzen die Koloskopie ab einem bestimmten Alter oder bei Vorliegen von bestimmten Risikokonstellationen (z.B. familiäre Häufung oder chronische Darmentzündungen) keineswegs.
Abb. 2: Dieser Bereich wird untersucht, ein Darmkrebs kann sich überall verstecken
Gesund zu leben kann das Risiko tatsächlich deutlich mindern (siehe Studie des Monats). Eine Sicherheit gibt es hiermit aber auch nicht. Ich selbst wurde doch deutlich von meinem Befund überrascht, mit dem ich niemals gerechnet hätte.
Koloskopie als Selbsterfahrung
Viele meiner Patienten haben sich einer solche Untersuchung schon unterzogen, könnten es aufgrund einer bestehenden Indikation oder des Alters oder müssten es mitunter sogar. Alle Fragen hierzu konnte ich bisher aber nur theoretisch beantworten, hatte selbst aber keine eigenen Erfahrungen als Untersucher, aber auch nicht „von der anderen Seite des Koloskops“. Das war jetzt bestimmt nicht der einzige Grund für die Koloskopie. Ich halte sie „eigentlich“ für notwendig bei bestehendem Alter und vorliegender Indikation. Wenn man mich gefragt hätte, warum ich sie bisher selbst noch nicht wahrgenommen habe, hätte ich auf obige fadenscheinige Ausreden zurückgreifen müssen. Wenn ich aber meinen Patienten zu einer sinnvollen medizinischen Maßnahme rate, wenn diese indiziert ist, dann muss ich auch selbst in den sauren Apfel beißen, wenn es sein muss.
Nach mehrmonatiger Wartezeit auf den Termin war es dann vor wenigen Tagen soweit. Ich hatte einen Termin am Montagnachmittag und das ganze Wochenende für die laxierenden Maßnahmen zur Verfügung. Ehrlich gesagt, hatte ich davor am meisten Angst. Ich kannte das Abführen noch von früher, wo mehrere Liter einer gar nicht so wohlschmeckenden Flüssigkeit innerhalb kurzer Zeit den Darmtrakt zu häufigen und teilweise explosionsartigen Entleerungen zwangen. Doch weit gefehlt: Die Einnahme einiger weniger Abführpillen und wenige Gläser eines geschmacklich unerwartet angenehm schmeckenden Getränks führten nicht zu gefürchteten Darmkrämpfen, sondern zu mehreren sanften Entleerungen. Diese waren aber durchaus tolerierbar und ohne drastischen imperativen Stuhldrang (eine Toilette sollte dennoch in guter Reichweite vorhanden sein).
Vor der Untersuchung erläuterte mir die Helferin das Procedere und erklärte mir unter anderem, dass ich mit einer Kurznarkose in Morpheus Arme gelegt und von der Untersuchung gar nichts mitbekommen würde. Sollte ich dennoch aufwachen, könnte man gern noch etwas nachspritzen. Der Arzt stellte mir dann auch noch ein paar Fragen. Alles fand in ruhiger, nicht angstmachender Atmosphäre und mit angemessener Würde statt.
Das letzte, woran ich mich erinnere, war die Injektion des Narkosemittels in den venösen Zugang. Als ich wiedererwachte, war der Gastroenterologe erstaunlicherweise noch zugange, was auch daran lag, dass „etwas gefunden worden war“. Man bot mir zwar die Verlängerung der Narkose an, aber wenn ich schon mal die Gelegenheit hatte, noch etwas mitzubekommen, wollte ich das natürlich wahrnehmen.
So konnte ich zum ersten Mal meine Eingeweide von innen sehen. Der Gastroenterologe erklärte mir, dass er zwei Polypen von ca. 5 mm Durchmesser und mehrere kleinere gefunden und gleich abgetragen habe. Ich erlebte die Untersuchung überhaupt nicht als unangenehm. Lediglich wenn etwas Luft insuffliert wurde, um den Darm zu entfalten und die Darmschleimhaut besser begutachten zu können, spürte ich ein leicht unangenehmes, aber gut aushaltbares Kneifen wie bei leichten Blähungen.
Nach der Untersuchung erklärte mir der Gastroenterologe den Befund ausführlich und für mich als (gastroenterologischen) Laien verständlich. Wenige Tage später (von wegen „langsame Schweizer“) erhielt ich das Ergebnis der histologischen Untersuchung: Es wurden zum Glück keine bösartigen Zellen gefunden. In den Polypen hätten sich in ein paar Jahren, vielleicht aber auch niemals Krebszellen entwickeln können. „Nur ein toter Polyp ist ein guter Polyp“ – ein entfernter Polyp kann keinen Krebs mehr entwickeln. Ich bin jedenfalls sehr froh, diese Untersuchung veranlasst zu haben.
Möglicherweise finden es nicht alle meine User gut, dass ich mich (recht positiv) mit einem schulmedizinischen Verfahren auseinandersetze. Nach den offiziellen Leitlinien sollte jeder diese Untersuchung ab einem Alter von 55 Jahren durchführen lassen. In Deutschland gibt es ca. 60.000 Neuerkrankungen bei Darmkrebs und ca. 25.000 Menschen sterben daran – Jahr für Jahr. Die Diagnose bedeutet eine Wahrscheinlichkeit von 40-60 %, daran auch zu versterben. Etwa die Hälfte kommt also dadurch zu Tode – oder positiv ausgedrückt überlebt jeder Zweite. Durch frühe Diagnostik können die Chancen erhöht werden. Ich bin weit davon entfernt, Ängste zu schüren. Aber angesichts der Häufigkeit der Erkrankung, des hohen Risikos daran zu sterben, wenn diese (zu spät) entdeckt wird, und der Menge der positiven Untersuchungsergebnisse bei sehr überschaubarem Risiko, muss sich jeder selbst ausrechnen, ob er eine solche Untersuchung machen lassen möchte. Die zu Beginn gestellte Frage, ob eine Koloskopie sinnvoll oder unnütz ist, möchte ich gar nicht für Sie beantworten. Das sollte jeder selbst tun. Statistische Zahlen und mein persönlicher Erfahrungsbericht sollten Ihnen ein wenig dabei helfen.
Zum Schluss aber noch was Positives: Welche Lebensmittel sollten wir meiden und welche bevorzugen, wenn wir Darmkrebs vermeiden wollen? Das finden Sie in der Studie des Monats.
Herzliche Grüße
Ihr Dr. Volker Schmiedel
Studie des Monats:
Meta-Analyse über den Einfluss von Lebensmittel auf das Risiko von Darmkrebs
Eine große Meta-Analyse mit 111 (!) verschiedenen Kohortenstudien untersuchte den epidemiologischen Zusammenhang zwischen Nahrungsmittel und dem Auftreten von Kolorektalkarzinomen (1). Jede tägliche Zufuhr von 100 g rotem oder verarbeitetem Fleisch führte zu einem Risikoanstieg um 12 %. Jede 10 g reiner Alkohol (z.B. ein kleines Glas Wein mit ca. 100 ml) bedeutete eine Risikosteigerung um 7 %. Rein theoretisch bedeuten daher der tägliche Konsum von etwa 200 g Hamburger, Wurst oder ähnlichem und zwei Glas Wein (je 200 ml) eine Risikosteigerung um 54 % für Dickdarmkrebs gegenüber jemanden, der dies nicht verzehrt – mögliche synergistische und überadditive Effekte sind hier noch nicht einmal berücksichtigt.
Demgegenüber bedeutet die Zufuhr von 90 g Vollkornprodukten (Brot, Vollkornnudeln, -reis) eine Minderung des Risikos um 17 %. Milchprodukte mindern demnach ebenfalls statistisch das Risiko, wobei hier mit 400 g für eine Reduktion von 13 % eine recht große Menge veranschlagt und nicht nach verschiedenen Produkten wie Milch, Joghurt oder Käse differenziert wurde.
Für Gemüse wurde eine mit 2 % pro 100 g recht geringe Risikominderung beobachtet, was aber bei einer empfehlenswerten Menge von 500-750 g am Tag doch immerhin 10-15 % bedeutet. Fisch führte zu 11 % weniger Dickdarmkrebs je kleiner Portion mit nur 100 g täglich. Eine gute Portion Fisch hat immerhin 200-300 g. Ein mittelgroßes Lachsteak (200 g) mit Vollkornreis (100 g), ein kleiner Joghurt (100 g) und 500 g Gemüse bedeuten danach statistisch eine Risikominderung von ca. 53 %, also mehr als eine Halbierung, im Vergleich zu jemandem, der diese Lebensmittel meidet. Auch hier sind mögliche synergistische Effekte nicht berücksichtigt. Für Früchte, Kaffee, Tee, Hülsenfrüchte und Geflügel wurden weder schädliche noch nützliche Effekte gefunden.
Mit einer geeigneten Lebensmittelauswahl – wenig rotes oder verarbeitetes Fleisch, wenig Alkohol, Vollkorn- statt Weißmehlprodukte, viel Gemüse, Milchprodukte und Fisch (oder Fischölsupplemente) – kann das Risiko für einen der weltweit häufigsten Krebse im Vergleich zur Normalbevölkerung leicht mehr als halbiert werden. Es erstaunt, dass für die Koloskopie mit großem Aufwand Werbung betrieben wird, wobei damit direkt kein Krebs verhindert, sondern nur entdeckt werden kann (die Entfernung von möglichen Vorstufen wie Polypen einmal ausgeschlossen), während Erkenntnisse über die wirkliche Vermeidung von Darmkrebs einer breiten Bevölkerung viel zu wenig bekannt gemacht werden.
Buchtipp des Monats
Michael Nehls, Autor des Bestsellers „Die Alzheimer-Lüge“, hat gerade ein neues Buch veröffentlicht. Es geht um den Nutzen von Omega-3-Fettsäuren maritimen Ursprungs. Aus ethischen und ökologischen Gründen sieht er die Zukunft allerdings weniger im Fischöl, sondern auch aufgrund der unbegrenzten Verfügbarkeit im Algenöl. Omega-3-Fettsäuren in der menschlichen Evolutionsgeschichte, Physiologie des Fettsäurestoffwechsels und praktische Anwendungen werden umfassend und verständlich dargestellt. Alle Behauptungen werden mit zahlreichen wissenschaftlichen Studien untermauert – allein das Verzeichnis der wissenschaftlichen Quellen stellt schon ein kleines Büchlein dar. Der gut informierte Laie profitiert hiervon ebenso wie der Therapeut und der Ernährungswissenschaftler. Das Buch ist allen an Ernährung im Allgemeinen und Fettsäuren im Besonderen Interessierten unbedingt ans Herz zu legen.
aufgeschnappt und kommentiert – aufgeschnappt und kommentiert
Verbot der Homöopathie gefordert!
Dr. med. Quintus Querulantius merkt hierzu an: Ich bin schon drei Jahre lang weg aus Deutschland und bekomme wohl nicht mehr alles mit. So war ich sehr erstaunt, als ich kürzlich erfahren habe, dass auf dem Deutschen Ärztetag im Mai in Erfurt liebe Kollegen, denen die Gesundheit der deutschen Patienten sehr am Herzen liegt, diese von einer unnützen und unwissenschaftlichen Therapiemethode befreien wollten – nämlich der Homöopathie. Es handelt sich dabei um den so genannten Münsteraner Kreis. Das ist ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Juristen, Journalisten, Ethikern, Wissenschaftlern andere theoretisierenden akademischen Sesselpupsern. Ich habe dort nur eine Ärztin für Allgemeinmedizin gefunden, die möglicherweise mit Patienten arbeitet. Alle anderen kennen sich – wenn überhaupt, dazu später – mit wissenschaftlichen Studien und mit Meta-Analysen, vermutlich nicht jedoch mit kranken Menschen aus – jedenfalls haben die meisten keine entsprechende Tätigkeit am Menschen und verfügen daher über keine therapeutische Erfahrung oder üben eine solche Tätigkeit nicht mehr aus.
Wenn sie selbst die Homöopathie (sie widmen sich aber auch dem Kampf gegen andere komplementäre Verfahren, die in ihren Augen nicht wissenschaftlich sind) für sich ablehnen, so dürfen sie dies gern tun. Sie brauchen sie auch nicht weiter zu empfehlen. Sie dürfen auch dagegen wissenschaftlich argumentieren und sogar polemisch dagegen wettern. Wir müssen so tolerant sein, all dies auszuhalten, selbst wenn wir deren Meinung nicht teilen.
All das reicht Ihnen aber nicht. Sie wollen nicht nur selbst nicht damit behandelt werden, sondern sie wollen alle vor diesem Teufelswerk schützen. Sie wollen de facto ein Verbot der Homöopathie. Und sie haben sich ein perfides Instrument dafür ausgedacht, nämlich die Weiterbildungsordnung der deutschen Ärzteschaft. Die deutsche Ärzteschaft kann immer noch frei und demokratisch auf dem Ärztetag entscheiden, in welchen Gebieten und Zusatzbezeichnungen eine offiziell anerkannte Fortbildung stattfinden soll. So gibt es u.a. die Zusatzbezeichnungen „Homöopathie“ und „Naturheilverfahren“. Neben mir (ich besitze beide Bezeichnungen und darf auch selbst weiterbilden) gibt es eine fünfstellige Anzahl von Ärzten, die 12 Semester schulmedizinische Ausbildung genossen und sich (dennoch?) entschieden haben, in teuren und zeitlich aufwändigen Weiterbildungen eine dieser Zusatzbezeichnungen zu erwerben. Und genau diese Weiterbildung sollte gestoppt werden. Damit gäbe es keine neuen, zumindest keine neuen ärztlichen Homöopathen und die verbleibenden würden irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes aussterben.
Abb. 3: Homöopathische Kügelchen – medizinische Gralshüter der reinen Lehre wollen uns vor diesen angeblichen Placebos schützen
Was haben die Münsteraner eigentlich dagegen?
Die Homöopathie sei eine unwissenschaftliche Heilslehre. Das ist schon entlarvend, dass sie sich in der Begrifflichkeit bei der Religion bedienen. Denn sie gehen mit dem Toleranzverständnis und dem Eifer von islamischen Tugendwächtern vor. Wer nicht Ihrer Meinung ist, wird als medizinischer Häretiker gebrandmarkt. Die uralten Argumente von den starken und daher unwirksamen Verdünnungen in der Homöopathie werden wieder aus der Mottenkiste der Medizingeschichte geholt. Dabei wirken Urtinkturen und niedrige Verdünnungen (etwa bis zur D4) durchaus mit Dosierungen, wie wir sie bei pflanzlichen Präparaten antreffen. 90 % aller homöopathischen Präparate (subjektive Schätzung) befinden sich in diesem Bereich. Auch mit mittelhohen Potenzierungen (etwa die D12) befinden wir uns in einem Bereich, wo Hormone im menschlichen Körper ihre Wirkung entfalten. Auch hier sind noch chemische Wirkungen durchaus denkbar. Lediglich bei Hochpotenzen (ab D23, C12 oder LMVI) verlassen wir den Bereich der Chemie. Die Gegner der Homöopathie sagen, dass diese Präparate rechnerisch kein einziges Molekül der Ausgangssubstanz enthalten – was richtig ist. Daher können sie auch nicht wirken – was nur dann richtig ist, wenn es um eine substantielle Wirkung geht. Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, nahm hier „geistartige Wirkungen“ an – zugegeben ein Begriff, der einem naturwissenschaftlich ausgebildeten Arzt bitter aufstoßen muss. Aber wenn wir stattdessen Begriffe wie „Resonanzphänomene“ benutzen, stören wir uns schon weniger daran.
Tatsache ist aber, dass kein Mensch weiß, wie Homöopathie wirklich funktioniert. Bis Ende der 60er Jahre wussten wir aber auch nicht, wie Aspirin wirkt – erst dann wurde der Wirkungsmechanismus aufgeklärt. Hätten wir erst ab dann die fiebersenkende und analgetische Wirkung nutzen sollen? Warum bestimmte Malariamittel bei Rheuma funktionieren, weiß heute auch noch kein Arzt. Sollten wir Rheumatikern, die andere Mittel nicht vertragen, diese etwa vorenthalten? Und letztlich weiß heute noch kein Wissenschaftler, wie und wo Gedächtnisinhalte gespeichert werden. Sollten wir daher die Existenz eines Gedächtnisses leugnen? Nur so viel scheint klar: Es ist keine Speicherung wie in einem Buch oder auf einer Festplatte. Neben chemischen Prozessen müssen hier irgendwelche andere Mechanismen eine Rolle spielen – egal ob wir diese energetisch oder geistartig nennen, sie entziehen sich weitestgehend unserem chemisch und biologisch geprägten Verständnis. Warum soll es solche nicht-chemischen Vorgänge nicht auch woanders geben?
Apropos Wissenschaft
Homoöpathische Potenzen haben sowohl in Zellkulturen als auch in doppelblinden Tierversuchen Wirkungen unter Beweis gestellt. Die Münsteraner behaupten dreist, es gebe keine wissenschaftlichen Studien, die naturwissenschaftlichen Kriterien genügen, die Wirkungen bewiesen hätten. Es existiert tatsächlich aber eine Vielzahl solcher Studien, ja sogar Meta-Analysen, die nach evidenz-basierten Kriterien die Wirksamkeit von Homöopathie belegen. Stattdessen wird immer wieder gebetsmühlenartig (oh je, schon wieder Religion) eine Meta-Analyse von Shang wiederholt, die angeblich die Unwirksamkeit bewiesen hat. Ich habe diese Meta-Analyse schon vor Jahren aufmerksam geprüft. Dabei kam zunächst heraus, dass die homöopathischen den schulmedizinischen Studien völlig gleichwertig waren! Erst durch nachträgliche Datenmanipulationen kam die „Unwirksamkeit“ heraus. Es handelte sich dabei keineswegs um Fälschungen, sondern man hat einfach nur Studien mit einer bestimmten Größe zugelassen. Der Grenzwert lag dabei bei etwa 80 Versuchspersonen. Dadurch wurde eine negative Studie mit 88 Probanden eingeschlossen, was zu einer statistischen Unterlegenheit der Homöopathie führte (es waren insgesamt übrigens nur ganze 14 Studien, die berücksichtigt wurden!). Hätte man die Grenze bei 100 gelegt, wäre die Studie ausgeschlossen worden und die Homöopathie wäre der Schulmedizin nicht unterlegen gewesen. Hätte man die Grenze bei 80 gelegt, wäre eine homöopathie-positive Studie eingeschlossen worden, was auch zu einer Nicht-Unterlegenheit der Homöopathie geführt hätte. Ganz schön wissenschaftlich oder? Und ein ganz schön harter Schlag gegen die Homöopathie! 14 Studien? Wow! Was mich nur wundert: Kennen die Homöopathie-Kritiker diese Fakten nicht? Dann sind sie bestenfalls naiv und ignorant. Wie ich sie nennen würde, wenn ihnen diese Zusammenhänge bekannt sind und sie trotzdem auf der „wissenschaftlich bewiesenen Unwirksamkeit“ bestehen, das kann ich hier nicht wiedergeben, es würde sich aber mit Sicherheit um Verbalinjurien aus dem Fäkalbereich handeln.
Die Münsteraner lehnen Placebos ab
Auch dies steht Ihnen frei. Aber dann müssten sie sich auch vehement gegen Verfahren wenden, von denen wir heute wissen, dass sie Placebos sind, z.B. arthroskopischen Glättungen und Waschungen der Kniegelenke bei Arthrose. Das ist nämlich in einer kontrollierten Studie nachgewiesen wurden. Und diese Spiegelungen sind belastender, invasiver und teurer als Homöopathie – und werden immer noch von der Kasse bezahlt!
Aber was haben sie denn eigentlich gegen Placebos? Nun, ich möchte auch keine bewusst einsetzen. Aber mir ist es tausendmal lieber, eine Mutter gibt ihrem Kind mit Mittelohrentzündung guten Gewissens homöopathische Kügelchen als ein bei dieser Krankheit fast immer unwirksames und meist sogar kontraindiziertes Antibiotikum. Und selbst, wenn die Kügelchen ausschließlich über den Glauben der Mutter daran wirkten – ja prima, warum denn nicht? Primum nihil nocere – in erster Linie nicht schaden, das ist seit 2500 Jahre hippokratische Maxime ärztlichen Handelns. Mit Placebos können wir das sehr gut – behandeln ohne zu schaden. Wer Placebos aber von vornherein ablehnt, hat nichts von der menschlichen Psyche verstanden. Die Placebo-Forschung hat inzwischen herausgefunden, dass Placebos sogar dann wirken, wenn die Patienten wissen, dass sie Placebos bekommen. Noch einmal: Ich fordere nicht, aktiv und bewusst Placebos einzusetzen, aber wir sollten uns in der Medizin viel mehr der sinnvollen Placeboeffekte bedienen – die übrigens nicht nur bei reinen Placebos, sondern auch bei jeder „richtigen Medizin“ wirken.
Vielleicht ist Neid eine unbewusste Triebfeder der Münsteraner? Homöopathen setzen nach deren Meinung völlig unwirksame Mittel ein, an die die Homöopathen so stark glauben, dass auch die Patienten so fest davon überzeugt sind, dass es zu deutlichen Besserungen oder Heilungen kommt. Und die Patienten lieben die Homöopathie und die Anwender sogar dafür. Und viele Hardcore-Schulmediziner setzen sehr teure und nebenwirkungsreiche, aber in Studien wirksame Mittel ein. Blöderweise haben sie bei weitem keinen so guten Ruf wie die Homöopathen und andere Naturheilkundler. Das kann einen doch schon mal vor Neid gelb werden lassen.
Zurück zum Ärztetag
Ich könnte noch auf viele „Argumente“ des Münsteraner Kreis eingehen. Nebenbei: Ausgerechnet in Münster gab es vor ziemlich genau 500 Jahren schon einmal Reformatoren, die meinten, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gegessen und waren von so religiösem Eifer, dass sie ein diktatorisches Täuferreich errichteten (unbedingt mal googlen! Das angebliche Himmelsreich wurde zur Hölle auf Erden). Missliebige Kritiker wurden in Käfigen an Kirchen aufgehängt. Ich will diese Täufer nun nicht mit dem Münsteraner Kreis vergleichen (höchstens ein ganz kleines Bisschen und auch nur im übertragenen Sinne), aber was den Täufern die Religion war, ist den Münsteraner die Naturwissenschaft und Abweichler wollen sie am liebsten in einem fiktiven Käfig am Kirchturm der Wissenschaft aufhängen.
Der Internist Bernhard Naunyn sagte im 19. Jahrhundert: „Die Medizin muss Wissenschaft oder sie wird nicht sein.“ Er meine damit – ebenso wie die Münsteraner – die in Chemie, Biologie und Physik damals so erfolgreiche Naturwissenschaft. Nun sind kranke Menschen aber etwas anderes, als wenn ein Stein durch Gravitation zu Boden fällt oder aus Natrium- und Chloridionen ein Salzkristall wächst. Wer die Humanmedizin (die Medizin für den Menschen oder die menschliche Medizin) so betrachtet, der vergewaltigt diese. Ich behaupte: „Die Medizin muss Naturwissenschaft sein, sonst wird sie unkritisch. Die Medizin muss aber auch Geisteswissenschaft sein, sonst wird sie unmenschlich!“
Wie haben sich die deutschen Ärzte denn nun zur Weiterbildung in Homöopathie positioniert? Der Präsident der Bundesärztekammer sagte vor dem Ärztetag: “Es ist eine Tatsache, dass Homöopathie vielen Menschen hilft. Wichtig ist, dass es jemand macht, der weiß, wann sie nicht mehr helfen und dann auf normale schulmedizinische Verfahren umsteigen kann”, sagte Montgomery, “ich sehe die Homöopathie als eine komplementäre Medizin. In Verbindung mit guter medizinischer Ausbildung ist sie sinnvoll.” In einer Umfrage sprechen sich über 85 % der Ärzte (und das waren sicher nicht nur Homöopathen, sondern auch viele Schulmediziner) für den Erhalt der homöopathischen Weiterbildung aus. Eine schallende Ohrfeige für die Münsteraner Extremisten! Sie sind nicht nur extrem weit von jeglicher Kenntnis regulatorischer Prozesse bei der Heilung entfernt, sie kennen sich nicht nur nicht in der menschlichen, sondern auch nicht in der ärztlichen Psyche aus.
Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass vernünftige Menschen eine „unwissenschaftliche Methode“ wollen. Und noch weniger können sie sich vorstellen, dass ein großer Teil ihrer Kollegen mit derselben wissenschaftlichen Ausbildung wie sie selbst haben, so etwas sogar praktizieren. Und sie können sich erst recht nicht vorstellen, dass Kollegen, die möglicherweise gar nichts von der Homöopathie halten, sogar für den Erhalt der Homöopathie stimmten, weil sie sich nicht von schulmedizinischen Taliban vorschreiben lassen wollen, was sie zu tun und zu lassen haben.
Ein herzliches Dankeschön nach Münster!
Ok, da sind die polemischen Pferde doch wieder mal ein wenig mit mir durchgegangen. Ich hoffe, ich habe niemanden persönlich beleidigt. Wenn doch, so entschuldige ich mich dafür. Ich wollte nur in der Sache hart sein.
Mein Dankeschön nach Münster meine ich aber ganz ernst und aufrichtig. Einen besseren Dienst hätten die schulmedizinischen Hardliner der Homöopathie und der Komplementärmedizin gar nicht erweisen können. Wir können jetzt ganz klar sagen: Das demokratisch gewählte Selbstverwaltungsinstrument der deutschen Ärzteschaft steht hinter der Homöopathie und hat dem antiliberalen Bestreben, bestimmte Richtungen quasi zu verbieten, klar Einhalt geboten. Der Antrag, die Homöopathie (und als nächstes vielleicht Yoga, Akupunktur oder Anthroposophie) „verbieten zu lassen“ ist im Papierkorb der Medizingeschichte gelandet. Und dort gehört er auch hin!
Ihr Dr. med. Quintus Querulantius
aufgeschnappt und kommentiert – aufgeschnappt und kommentiert
Literaturliste – für alle, die wissenschaftlich tiefer bohren und die wissenschaftlichen Quellen erkunden möchten, unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed können Sie die Abstracts (in Englisch) nachlesen und manchmal auch Links zu den Originalarbeiten finden:
Vieira AR, Abar L, Chan DSM, Vingeliene S, Polemiti E, Stevens C, Greenwood D, Norat T: Foods and beverages and colorectal cancer risk: a systematic review and meta-analysis of cohort studies, an update of the evidence of the WCRF-AICR Continuous Update Project. Ann Oncol. 2017 Aug 1;28(8):1788-1802. doi: 10.1093/annonc/mdx171.